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Es gibt kein Entkommen – wir bezahlen für die Gewalt unserer Vorfahren.
Aus »Gesammelte Weisheiten des Muad'dib«,
von Prinzessin Irulan
»Es ist jetzt schon einen Monat her, dass Rinya von uns gegangen ist. Sie fehlt mir entsetzlich.« Murbella, die mit Janess auf dem Weg zu den Akoluthenhäusern war, konnte den Schmerz im Gesicht ihrer Tochter deutlich erkennen.
Trotz ihrer eigenen Gefühle wahrte die Mutter Befehlshaberin eine distanzierte Miene. »Gib darauf Acht, dass ich nicht noch eine Tochter verliere – oder noch eine potenzielle Ehrwürdige Mutter. Wenn die Zeit kommt, musst du dir absolut sicher sein, dass du für die Agonie bereit bist. Lass dich nicht durch deinen Stolz zu einer übereilten Entscheidung verleiten.«
Janess nickte gehorsam. Sie würde nicht schlecht über die Zwillingsschwester sprechen, die sie verloren hatte, aber sie und Murbella wussten beide, das Rinya nicht so zuversichtlich gewesen war, wie sie behauptet hatte. Sie hatte ihre Zweifel hinter einer Fassade falschen Muts versteckt. Und das hatte sie umgebracht.
Eine Bene Gesserit musste ihre Gefühle verbergen, musste alle störenden Spuren von Liebe tilgen. Einst war Murbella selbst in den Fesseln der Liebe verstrickt gewesen. Ihr Band zu Idaho hatte sie geschwächt. Ihn zu verlieren hatte sie nicht befreit, und der Gedanke, dass er sich noch immer draußen in der Leere befand, unglaublich weit entfernt, verursachte ihr ständige Pein.
Trotz ihrer offiziellen Haltung wusste die Schwesternschaft schon lange, dass sich das Gefühl der Liebe nicht völlig ausmerzen ließ. Wie von den alten Priestern und Nonnen längst vergessener Religionen erwartete man auch von den Bene Gesserit, dass sie der Liebe im Dienste einer größeren Sache entsagten. Aber auf lange Sicht war es immer ein Fehler, eine Sache ganz aufzugeben, nur um sich gegen den ihr innewohnenden Schwachpunkt abzusichern. Man konnte die Menschen nicht retten, indem man sie zwang, ihre Menschlichkeit aufzugeben.
Dass Murbella engen Kontakt mit den Zwillingen gepflegt, ihre Ausbildung überwacht und ihnen sogar die Identität ihrer Eltern offenbart hatte, war ein Bruch mit den Traditionen der Schwesternschaft gewesen. Die meisten Töchter, die Bene-Gesserit-Schulen besuchten, sollten ihr Potenzial »ohne störende Familienbande« entwickeln. Von ihren beiden jüngeren Töchtern Tanidia und Gianne hielt sich die Mutter Befehlshaberin allerdings fern. Aber sie hatte Rinya hingeben müssen und weigerte sich, auch noch ihre Verbindung zu Janess zu verlieren.
Jetzt, nach einer Übungsstunde in den kombinierten Kampftechniken der Bene Gesserit und der Geehrten Matres, durchquerten beide gemeinsam den Westgarten der Festung, auf dem Weg zu den Häusern, in denen Janess und die anderen Akoluthen lebten. Das Mädchen trug noch immer ihren zerknitterten, durchgeschwitzten Kampfanzug.
Die Mutter Befehlshaberin sprach mit ruhiger Stimme, obwohl auch sie beim Gedanken an Rinya einen Stich im Herzen spürte. »Wir müssen weiterleben. Es gibt noch immer viele Feinde, denen wir uns stellen müssen. Rinya würde das auch wollen.«
Janess straffte sich. »Ja, das würde sie. Sie hat dir geglaubt, was den Feind betrifft, und ich glaube dir ebenfalls.«
Manche Schwestern hielten den Nachdruck der Mutter Befehlshaberin in dieser Sache für unangemessen. Die Geehrten Matres waren zurück ins Alte Imperium geflüchtet, als würde ihnen der Himmel auf den Kopf fallen. Aber einige Bene Gesserit hatten Beweise dafür verlangt, dass es dort draußen tatsächlich einen so entsetzlichen Feind gab, bevor sie Murbella die Fundamente des Ordens einreißen ließen. Keine Geehrte Mater war jemals tief genug in die Weitergehenden Erinnerungen eingetaucht, um viel von ihrer Vergangenheit ans Licht zu bringen. Selbst Murbella konnte sich nicht an ihren Ursprung irgendwo in der Diaspora erinnern, und sie wusste auch nicht, wie sie ihrem Feind zum ersten Mal begegnet waren oder was seinen vernichtenden Zorn heraufbeschworen hatte.
Murbella konnte nicht glauben, dass ihre Schwestern so blind waren. Hatten die Geehrten Matres sich etwa nur eingebildet, dass Hunderte von Planeten durch Seuchen entvölkert worden waren? Hatten sie sich die beeindruckenden Waffen, die Rakis und so viele andere Planeten zerstört hatten, einfach herbeigewünscht?
»Wir brauchen keine Beweise mehr, dass der Feind existiert«, sagte Murbella knapp, während sie an einer trockenen Dornenhecke entlanggingen. »Er ist auf dem Weg zu uns. Zu uns allen. Ich bezweifle, dass der Feind einen Unterschied zwischen den verschiedenen Fraktionen unserer Neuen Schwesternschaft machen wird. Mit Sicherheit ist ganz Ordensburg in seinem Fadenkreuz.«
»Wenn er uns findet«, sagte Janess.
»Oh, er wird uns finden. Und er wird uns vernichten, wenn wir nicht vorbereitet sind.« Sie warf der jungen Frau einen Blick zu und sah das Potenzial im Gesicht ihrer Tochter. »Und deshalb brauchen wir so viele Ehrwürdige Mütter wie möglich.«
Janess hatte sich an diesem Tag mit einer Entschlossenheit ins Training gestürzt, die selbst ihre geradezu besessene Zwillingsschwester überrascht hätte. Sie kämpfte mit Händen und Füßen, wirbelte herum, rollte sich ab, duckte sich und griff ihre Gegner von allen Seiten an, wob ein Netz aus Kraft und Geschwindigkeit um sie.
Einige Stunden zuvor hatte Janess gegen eine hochgewachsene drahtige junge Frau namens Caree Debrak gekämpft. Caree war als Schülerin mit den vor Kurzem besiegten Geehrten Matres eingetroffen, die nach Ordensburg strömten. Da sie Groll gegen die Tochter der Mutter Befehlshaberin hegte, hatte sie den Wettstreit als Vorwand benutzt, um ihrem Zorn Luft zu machen. Sie hatte ihrer Gegnerin wehtun wollen. Janess hatte die Übungstechniken einstudiert und war davon ausgegangen, das Mädchen in einem fairen Kampf zu besiegen, aber die junge Geehrte Mater hatte rohe Gewalt entfesselt und dabei nicht nur die Regeln, sondern fast auch Janess' Knochen gebrochen. Wikki Aztin, die Bashar, die das Einzelkampftraining überwachte, hatte die beiden schließlich voneinander getrennt.
Der Zwischenfall bereitete Murbella ernsthafte Sorgen. »Du hast gegen Caree verloren, weil die Geehrten Matres keine Zurückhaltung kennen. Wenn du hier erfolgreich sein willst, musst du lernen, es ihnen darin gleichzutun.«
In den vergangenen Monaten waren Murbella hässliche Untertöne aufgefallen, insbesondere unter den jüngeren Auszubildenden. Obwohl sie offiziell alle Teil einer großen Schwesternschaft waren, bestanden die meisten Akoluthen auf der alten Trennlinie. Sie trugen ihre eigenen Farben und Abzeichen und teilten sich je nach Herkunft in Bene-Gesserit- oder Geehrte-Matres-Cliquen auf. Manche besonders Unzufriedene verschwanden, angewidert von den Vermittlungsbemühungen und unwillig, Kompromissbereitschaft zu lernen. Sie gründeten eigene Siedlungen im Norden – selbst nach Annines Hinrichtung.
Als sie sich den Akoluthenhäusern näherten, hörte Murbella wütendes Stimmengewirr durch die trockene braune Hecke. Sie folgten einer Biegung des Gartenpfads und erreichten den Vorhof, einen Streifen aus welkem Gras und Kieswegen vor den Häusern. Normalerweise versammelten sich die Akoluthen hier für Spiele, Picknicks und Sportveranstaltungen, doch kürzlich hatte ein unerwarteter Staubsturm eine Schmutzschicht über die Bänke verteilt.
Jetzt hatte sich ein Großteil der Schülerinnen wie auf einem Schlachtfeld auf dem kargen Rasen versammelt – mehr als fünfzig Mädchen in weißen Roben, allesamt Akoluthen. Die jungen Frauen, die sich eindeutig in Bene Gesserit und Geehrte Matres aufgeteilt hatten, stürzten sich wie brüllende Tiere aufeinander.
Murbella erkannte Caree Debrak unter den Kämpferinnen. Das Mädchen schickte eine Gegnerin mit einem harten Tritt ins Gesicht zu Boden und fiel anschließend wie ein hungriges Raubtier über sie her. Als die gestürzte Schülerin um sich schlug und versuchte, sich zu wehren, ergriff Caree ihren Haarschopf, stellte ihr den Fuß brutal auf die Brust und riss ihren Kopf mit genug Kraft nach oben, um einen kleinen Baum auszureißen. Das übelkeiterregende Knacken, als der Hals des Mädchens brach, war sogar über den tobenden Kampflärm zu hören.
Grinsend ließ Caree die Tote liegen und wirbelte herum, um sich der nächsten Gegnerin zu stellen. Die Akoluthen mit den orangefarbenen Armreifen der Geehrten Matres attackierten ihre Rivalinnen von den Bene Gesserit in bewusstloser Raserei, boxten, traten, rissen und gruben sogar die Zähne ins Fleisch ihrer Gegnerinnen. Bereits mehr als ein Dutzend junger Frauen lag wie blutige Lumpen über den trockenen Rasen verteilt. Schreie der Wut, des Schmerzes und Trotzes stiegen aus zahlreichen Kehlen auf. Dies war weder ein Spiel noch eine Übungsstunde.
Entsetzt rief Murbella: »Aufhören! Das gilt für alle!«
Vom Adrenalin getrieben, fuhren die Akoluthen unter wildem Gebrüll fort, sich gegenseitig anzubrüllen und zu zerfetzen. Ein Mädchen, eine ehemalige Geehrte Mater, taumelte mit zu Klauen gekrümmten Händen herum und schlug nach allem, was ein Geräusch machte – ihre Augen waren nur noch blutige Höhlen.
Murbella beobachtete, wie zwei junge Bene Gesserit eine um sich schlagende Geehrte Mater zu Boden rissen und ihr das orangefarbene Band vom Arm rissen. Mit Schlägen, die stark genug waren, ihr das Brustbein zu brechen, töteten die Bene-Gesserit-Akoluthen sie.
Caree warf sich mit den Füßen voran auf das Angreiferpaar, traf beide auf einmal und schickte sie zu Boden. Ein Tritt zertrümmerte einer von ihnen den Kehlkopf, aber die andere wich dem weit durchgezogenen Schlag aus. Während ihre Gefährtin gurgelnd und röchelnd zusammenbrach, rollte sie sich ab und sprang auf die Füße. Sie hielt einen scharfkantigen Stein in der Hand, den sie vom Boden aufgehoben hatte.
Wächter, Proctoren und Ehrwürdige Mütter kamen von der Festung herbeigeeilt. Bashar Aztin führte ihre eigenen Truppen an, und Murbella stellte fest, dass sie schwere Betäubungswaffen trugen. Die Mutter Befehlshaberin schrie in das Chaos, wobei sie ihre Worte mithilfe der Stimme wie Geschosse auf die Akoluthen schleuderte. Aber das Getöse war so groß, dass niemand sie zu hören schien.
Seite an Seite begaben sich Janess und Murbella unter die kämpfenden Akoluthen, die sie mit Schlägen traktierten, ohne darauf zu achten, ob ihre Gegner orangefarbene Bänder trugen oder nicht. Murbella spürte, wie ihre Tochter die Konzentration verstärkte und sich in den Kampf stürzte.
Murbella legte die Arme um den Kopf, warf sich gegen die hämisch triumphierende Caree Debrak und schleuderte sie zu Boden. Die Mutter Befehlshaberin hätte ihr leicht den Todesstoß versetzen können, aber sie beschränkte sich darauf, das Mädchen zurechtzustauchen.
Keuchend drehte sich Caree auf den Rücken und starrte Murbella und Janess wütend an. Dann kämpfte sie sich taumelnd auf die Füße. »Hat es dir heute Morgen noch nicht gereicht, Janess? Willst du noch mehr von mir?« Sie holte aus.
Mit sichtlicher Mühe wahrte Janess die Beherrschung. Sie wich spielend aus, ohne zurückzuschlagen. »›Es beweist größeres Geschick, Konfrontationen zu vermeiden, als sich auf sie einzulassen.‹ Das ist ein Bene-Gesserit-Lehrsatz.«
Caree spuckte aus. »Was interessieren mich die Lehrsätze von Hexen? Hast du auch irgendwelche eigenen Gedanken? Oder nur die deiner Mutter und Zitate aus einem alten Buch?«
Caree hatte kaum zu Ende gesprochen, da griff sie auch schon mit einem kräftigen Tritt an. Janess ahnte den Angriff voraus, wich zur Seite aus, stand plötzlich neben ihrer Gegnerin und attackierte ihre Schläfen mit den Fäusten. Die junge Geehrte Mater ging zu Boden, und Janess versetzte ihr einen Tritt vor die Stirn, der sie zurücksacken ließ und ihr das Bewusstsein raubte.
Schließlich erstarb das Handgemenge, als mehr und mehr Frauen eintrafen und die Streitenden auseinanderrissen. Der Hof war bedeckt von den blutigen Überresten der Schlägerei. Eine Ladung Betäubungsfeuer ließ einige immer noch kämpfende Akoluthen in einem gemeinsamen Haufen zu Boden gehen, bewusstlos, aber am Leben.
Schwer atmend und voller Ekel und Zorn ließ Murbella den Blick über das blutige Schlachtfeld schweifen. »Eure orangefarbenen Armbänder haben das ausgelöst!«, schrie sie die jungen Geehrten Matres an. »Warum stellt ihr eure Unterschiede zur Schau, anstatt euch mit uns zu vereinigen?«
Mit einem Seitenblick sah Murbella, dass Janess Position bezogen hatte, um die Mutter Befehlshaberin zu schützen. Das Mädchen war vielleicht noch nicht bereit für die Gewürzagonie, doch für diesen Kampf war sie bestens vorbereitet.
Die überlebenden Akoluthen schlichen nach und nach zu ihren jeweiligen Behausungen zurück. Janess sprach ihrer Mutter aus der Seele, als sie ihnen über die Leichen auf dem braunen Gras hinweg nachrief: »Seht euch diese Verschwendung von Ressourcen an! Wenn wir so weitermachen, wird der Feind uns gar nicht mehr töten müssen!«